Challenging Populist Truth-Making in Europe: Die Rolle von Museen in einer digitalen ‘Post-Truth’ Gesellschaft in Europa (CHAPTER) wird von der Volkswagenstiftung finanziert. Durch ethnografische Forschung und digitale Innovation entwickelt das Forschungsprojekt Zugänge und best-practice Beispiele zur Unterstützung von Museen im Umgang mit dem wachsenden Einfluss von populistischen Diskursen in Europa. Das Projekt ist eine Zusammenarbeit von Forscher*innen in Berlin (Projektleitung: Sharon Macdonald), Tübingen (Projektleitung: Christoph Bareither), London (PI Haidy Geismar) und Krakow (PI Roma Sendyka) und Museen in den jeweiligen Ländern. Der wissenschaftliche Beirat setzt sich aus Mitgliedern aus sechs verschiedenen europäischen Ländern zusammen. Das Projekt kooperiert zudem mit der Softwareentwicklungsfirma Fluxguide aus Wien, mit der das Team gemeinsam mit jungen Museumsbesucher*innen aus drei verschiedenen Ländern eine Museumsapp entwickeln wird. Das Projekt vereint eine breite Auswahl an anthropologischen Forschungsfeldern, einschließlich der Digital- und Medienanthropologie, Museumsanthropologie, der politischen Anthropologie sowie der Anthropologie von Emotionen und Affekten. Angesiedelt am Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage (CARMAH) an der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Ludwig Uhland Institut für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen sowie gemeinsam mit der Jagiellonian University (JU) in Krakow und dem University College London (UCL) möchte das Projekt eine europäische Perspektive darauf entwickeln, wie Museen populistischer Wahrheitsbildung in zeitgenössischen, digitalen Gesellschaften entgegentreten können.
Hier können Sie das Video über die CHAPTER App und den Entstehungsprozess ansehen.
Eine der größten Herausforderungen für den öffentlichen demokratischen Diskurs in gegenwärtigen europäischen Gesellschaften ist die Zunahme sogenannter “post-truths”, besonders im Internet, die etablierte Normen eines faktenbasierten Glaubenssystems in Frage stellen. Museen sind zunehmend mit starken Behauptungen über Kultur, Geschichte, Gesellschaft, Politik oder Umweltentwicklungen konfrontiert, die als wahr betrachtet werden, weil sie sich wahr anfühlen. Ausgehend von anthropologischen Perspektiven auf Emotionen und Affekte, betont CHAPTER die Rolle von Emotionen bei populistischer Wahrheitsbildung und erforscht, wie diese bestimmte Meinungen über Gesellschaft, Politik und Kultur fördern. Diese Praktiken emotionaler populistischer Wahrheitsbildung werfen für Museen ein Dilemma auf: Wie können Museen populistischer Wahrheitsbildung entgegnen, ohne dabei explizit oder implizit populistische Praktiken zu reproduzieren? Ist es möglich, emotionale Wahrheitsbildung in Frage zu stellen, ohne die Dichotomie zwischen “rationaler Wahrheit” und “emotionaler post-truth” zu simplifizieren? Was können Museen tun, um die Komplexität der Fragen über Wahrheitsbildung hervorzuheben, ohne dabei populistische Annahmen und Anschuldigungen zu bestärken? Kurz: Wie können Museen sinnvoll und effektiv auf populistische Behauptungen reagieren, diese reflektieren und ihnen kritisch begegnen?
CHAPTER sieht diese Fragen als Kernherausforderung an. Um dieser Herausforderung zu begegnen, wendet das Projekt ein innovatives, vielschichtiges Forschungsdesign an und vereint ethnografische Forschung über populistische Wahrheitsbildung mit den Erfahrungen von Besucher*innen sowie mit digitaler Innovation in Museen durch das anwendungsbezogene Co-Design einer digitalen Museumsapp. Die App wird in Kooperation mit drei Partnermuseen und der Softwarefirma Fluxguide entwickelt. Junge Museumsbesucher*innen sollen herausgefordert werden, sich kritisch mit Praktiken populistischer Wahrheitsbildung auseinanderzusetzen.
Unser Ziel ist nicht nur, die App gemeinsam mit jungen Besucher*innen zu entwickeln, sondern den App-Gebrauch darüber hinaus auch zu begleiten, zu analysieren und zu evaluieren, um dadurch entscheidende Kenntnisse über das Potential digitaler Medien in musealen Kontexten auf einem weitaus breiteren Level zu erhalten. Wir werden ein Best-Practice-Portfolio erstellen, das praktische und interdisziplinäre Lösungsansätze bereitstellt, die es Museen und kulturellen Institutionen erlauben, über CHAPTER hinaus individuelle Strategien im Umgang mit dem wachsenden Einfluss populistischer Wahrheitsbildung in Europa zu entwickeln.
Work Area 1 zielt darauf ab, den Einfluss populistischer Wahrheitsbildung auf europäische Museen zu verstehen und einen umfassenden Vergleich auf europäischer Ebene zu ermöglichen. Eine empirische, explorative Studie, die von der Postdoktorandin Julia Leser koordiniert und von den Doktorandinnen Alice Millar, Marlena Nikody und Helena Kiess unterstützt wird, wird die Erfahrungen von Museumsakteur*innen in Deutschland, Polen und dem Vereinigten Königreich erfassen. Dabei werden folgende Fragen adressiert: Welche Auswirkungen hat die populistische Wahrheitsfindung auf europäische Museen? Welche Strategien haben Museen bisher entwickelt, um die Post-Wahrheitspraktiken durch ihre kuratorische und pädagogische Arbeit sowie ihr öffentliches Engagement herauszufordern? Welche Strategien und Politiken werden von populistischen politischen Akteuren in Museen unterstützt und/oder durchgesetzt? Wie werden Fragen nach der eigenen Wahrheitsfindung in Museen gestellt? Angesichts der besonderen Bedeutung digitaler Medien für "Post-Wahrheits"-Gesellschaften (z.B. Online-Plattformen, die als Räume für die Verbreitung von "Fake News" und anderen "alternativen Fakten" fungieren), wird das Team auch eine Internet-Ethnographie zu diesen Fragen durchführen.
Work Area 2 berücksichtigt die Tatsache, dass Museen nicht nur Orte des Austauschs “rationalen” Wissens, sondern auch Orte der emotionalen Vermittlung von “Wahrheiten” sind, an denen man auch den Gefühlen anderer begegnet. Indem wir James Cliffords Konzept der contact zones (Kontaktzonen) adaptieren, können wir erfassen, wie Museen “affektive Kontaktzonen” bilden und ihre Dynamik in Hinblick auf junge erwachsene Besucher*innen verstehen. Die PhD Forscherinnen werden dafür mit Partnermuseen (dem Humboldt-Forum in Deutschland, dem Museum of London sowie dem Migration Museum im Vereinigten Königreich und Oskar Schindlers Emaille Fabrik in Polen) und Schulen/Universitäten/Hochschulen in Berlin, London und Krakow zusammenarbeiten, um so ethnographische Feldforschung darüber zu betreiben, wie sich junge Besucher*innen mit den affektiven Kontaktzonen von Museen umgehen. Die Schlüsselfragen lauten: Wie erleben junge Besucher*innen mit emotionaler Wahrheitsbildung in Museen und wie gehen sie damit um? Wie funktionieren Museen als affektive Kontaktzonen in Bezug auf bestimmte Wahrheiten? Was können wir aus dieser Studie lernen, um den Einfluss von populistischer Wahrheitsbildung auf Museen besser einzuordnen und zu verstehen?
Ziel der Work Area 3 ist es, die Möglichkeiten digitaler Medien bei der Förderung einer kritischen Auseinandersetzung mit populistischer Wahrheitsfindung unter einem jungen Publikum zu bewerten: Welche Rolle spielen digitale Medien in Prozessen der Wahrheitsbildung? Wie können digitale Werkzeuge wie Museumsapps junge Museumsbesucher*innen dazu inspirieren, sich kritisch mit Praktiken der Wahrheitsbildung und Fragen zu emotionaler Wahrheitsbildung während ihres Besuchs auseinanderzusetzen? Wie können soziale Medien verwendet werden, um Reflexionen über den musealen Ort hinaus zu teilen? Um diese Fragen zu beantworten, werden wir ethnographisch sowohl die Affordanzen als auch die praktischen Nutzungsweisen existierender Museumsapps, digitaler Geräte und Plattformen untersuchen, um herauszufinden, wie diese Wahrheitsbildungspraktiken unter jungen Erwachsenen im Kontext von Museen formen. Gemeinsam mit Work Area 1 und 2 wird diese Work Area dabei helfen, Ideen für das Co-Design der CHAPTER Museumsapp zu entwickeln.
In Work Area 4 werden wir unsere ethnographischen Ergebnisse der vorherigen Work Areas zusammenführen, um in Kooperation mit unserem Projektpartner Fluxguide eine Museumsapp zu entwickeln. Zweck der App ist, die Fähigkeit kritischen Denkens von Bürger*innen in Bezug auf populistische Wahrheitsbildung zu fördern, indem die affektiven Kontaktzonen unserer Partnermuseen mithilfe eines digitalen, spielerischen und kritisch-reflexiven Mediums erweitert werden. Die App wird ein gemeinsames Design haben, aber der Inhalt auf das jeweilige Partnermuseum zugeschnitten sein. Sie wird in den App Stores für iOS- und Android-Geräte zum kostenlosen Download zur Verfügung stehen. Nach der Veröffentlichung werden wir den Prozess der App-Entwicklung und Implementierung untersuchen und kritisch reflektieren. Dabei werden wir ethnographische Techniken verwenden, um die Nutzung der App durch junge Besucher*innen besser zu verstehen. Über ein von Fluxguide bereitgestelltes mobiles Content Management System können die Nutzer der App mit unseren Forschern zusammenarbeiten, Feedback geben und die Inhalte und Aufgaben der App nach ihren individuellen Vorstellungen anpassen. Durch die Reflexion dieses kollaborativen Prozesses durch eine ethnografische Linse wird das Forschungsteam entscheidende Einblicke in die Beziehung zwischen emotionaler Wahrheitsfindung, digitalen Medien und Museumsräumen gewinnen, die in einem Best-Practice-Portfolio bewährter Strategien zur die Herausforderung populistischer Wahrheitsfindung durch digitale Innovation in Museen zusammengetragen werden.